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Antwort Andrea Lindholz (MdB/CSU) - Gesetzesabschaffendes Referendum
Antwort Andrea Lindholz (MdB/CSU) – Gesetzesabschaffendes Referendum – Foto: © Karpf!Kreativ/lindholz.de

Gesetzesabschaffendes Referendum

Abgeordnetenanfrage – persönlicher Brief

Sehr geehrter Herr Beil,

[…] Der Vorschlag von Herrn Prof. Dr. Patzet scheint auf den ersten Blick interessant zu sein. Direkte Bürgerbeteiligung kann sicherlich ein probates Mittel sein, um Interesse an demokratischer Politik zu wecken. […]

[…] Insbesondere auf kommunaler Ebene bin ich daher sehr offen für Ideen, um Bürger direkter an Entscheidungsprozessen zu beteiligen.
Allerdings bin ich skeptisch gegenüber den langfristigen Auswirkungen einer solchen direkten Mitbestimmung auf Bundesebene. […]

Mit freundlichen Grüßen

Andrea Lindholz, MdB

Antwort Andrea Lindholz (MdB/CSU) - Gesetzesabschaffendes Referendum
Antwort Andrea Lindholz (MdB/CSU) – Gesetzesabschaffendes Referendum

dialog-2015 an Andrea Lindholz (MdB/CSU) – Gesetzesabschaffendes Referendum

Sehr geehrte Frau Lindholz,

herzlichen Dank für Ihre ausführliche Rückantwort.

Wir erlauben uns punktuell auf einige Ihrer Ausführungen einzugehen.
Ihre Feststellung, dass die Bevölkerung von Beginn an bei Gesetzgebungsprozessen mitgenommen werden muss, trifft den Kernpunkt unseres Anliegens.
Allerdings ist es illusorisch, wenn aktuell 631 Mandatsträger des Bundestages diese Aufgabe übernehmen sollen. Die Zeiten haben sich leider verändert und die politischen Herausforderungen in unserer modernen und hochkomplexen Welt werden nicht kleiner. Eine informative Abgeordneteninternetseite, diverse monatliche Bürgersprechstunden und vereinzelte öffentliche Auftritte reichen nicht aus, um dem Volk Politik und deren Ziele erklärbar zu machen. Die Abgeordneten des Bundestages werden an dieser Stelle allein gelassen, da unsere Medien hier zwischenzeitlich kollektiv versagen. Vor allem der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten, in diesem Zusammenhang entsprechend zu agieren, wird leider nicht erfüllt. Die Lücke oder besser definiert der Graben zwischen Volk und Politik ist zwischenzeitlich so groß, dass Journalisten und Medien auch gar nicht mehr in der Lage wären, diesen zu schließen.
Politik vermittelt spätestens seit Beginn der Finanz- und Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 den Eindruck einer Hetzjagd und einer Hochhausbaustelle, deren Architekten und Statiker das Handtuch geworfen haben, aber trotzdem mit Hochdruck weiter Etage auf Etage gebaut wird, in der Hoffnung, das Bauwerk kippt nicht um. Dieser Eindruck führt zusammen mit einem gewaltigen Informationsdefizit zu dieser oftmals für Politiker nicht begreifbaren Unzufriedenheit der Bürger.
Die Wesenszüge der repräsentativen Demokratie, welche in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 65 Jahre einen festen Bestand haben und beinhalten, dass die unterschiedlichen Sachthemengebiete ausschließlich in zugehörigen Parlamentsausschüssen und Gremien von Fachleuten vor einer parlamentarischen Verabschiedung beraten werden, passen leider nicht mehr in das aktuelle Zeitgeschehen. Auf Grundlage des Grundgesetzes, ist durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt lediglich personell in Form der Volksvertreter, seitens des Bundesvolkes wählbar. Die Volksvertreter treffen nach ihrer Wahl im Volksauftrag über den gesamten Zeitraum der Legislaturperiode alle Sachentscheidungen allein. Das Resultat dieser parlamentarischen Arbeit der gewählten Volksvertreter, geht in den letzten Jahren aber leider nicht mehr konform mit dem Verstehen des Bundesvolkes. Da die Bürgerinnen und Bürger in diesen parlamentarischen sachthemenbezogenen Findungsprozess nur mangelhaft eingebunden sind, ergibt sich ein immer größer werdender Identifikationsverlust mit den in Folge getroffenen Sachentscheidungen. Der Bürger hat das Gefühl, dass Gemeinschaftsaufgaben dem Eigeninteresse der Parteien zum Opfer fallen sowie Macht und Geld im Vordergrund stehen und nicht das Wohlergehen des Staates und der Wähler. Da im Zuge getroffener parlamentarisch politischen Sachentscheidungen dem Wahlvolk nicht mehr verständlich erklärt wird, welche Vor- oder Nachteile sich hieraus ergeben und in welche Richtung sich der Staat bewegt, resigniert ein Großteil des Bundesvolkes mit dem Argument, “…Die da oben machen doch ohnehin, was sie wollen, und wir hier unten können daran sowieso nichts ändern…”. Das wiederum führt zu einer zunehmenden Politik- und Wahlverdrossenheit, welche in politischen Kreisen auch als mangelnde politische Bildung bezeichnet wird und gipfelt in zunehmenden Zukunfts- und Existenzängsten. Dieser fortschreitende und sich durch alle Bevölkerungsschichten ausbreitende Prozess von Resignation und Angst gefährdet die Demokratie, vernichtet die damit verbundenen Wertvorstellungen und stellt die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schrittweise in Frage.
Wir schließen uns selbstverständlich Ihrer Meinung an, dass die Einbindung der Bevölkerung auf kommunaler Ebene wichtig ist. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass eine derartige Einbindung im aktuellen und fortlaufenden Zeitgeschehen bei der Bevölkerung immer weniger Beachtung finden wird. Grund hierfür ist, dass die Menschen in der heutigen Zeit nicht mehr sesshaft sind. Laut Statistik wechseln jährlich ca. 5,5 Millionen Haushalte, was wiederum ca. 10 Millionen Personen betrifft, in Deutschland ihren Wohnraum. Davon entfallen 48 % der Personen auf einen generellen Ortswechsel. 52 % ziehen innerhalb der gleichen Stadt und Gemeinde um. Bricht man die Statistik auf die wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland herunter, zieht jeder Wähler innerhalb von 12 Jahren mindestens einmal in eine andere Gemeinde oder eine andere Stadt, was wiederum an Beruf, Karriere oder Familie gekoppelt ist. Die Integration und Bindung zum Wohnort, wie man Sie noch vor 20 Jahren erleben konnte, ist heute nicht mehr gegeben. Durch eine schwindente Ortsverbundenheit stagniert somit parallel das Interesse der Bevölkerung, sich in kommunale Entscheidungen mit einzubringen, was wiederum das in diesem Schreiben benannte Kernproblem entsprechend nicht löst.
Skeptisch sehen wir auch, wenn Sie darauf abstellen, dass staatliche Planung in Form von Gesetzen, den Weg der etablierten Rechtsförmlichkeit, unter Verweis auf die Komplexität, nicht verlassen darf. Dieser Argumentation halten wir entgegen, dass es sich aus unserer Sicht bei Gesetzen nicht um eine juristische Materie handelt, auf welche sich eine etwaige Bürgerbeteiligung generell nachteilig auswirkt. Diese Auffassung ähnelt zu sehr dem Leitgedanken einer Obrigkeitsstaatlichkeit in der Form, dass ein Recht zu Gemeinwohl alleinig durch Juristenhand entsteht. Demokratie bleibt aus unserer Sicht so nicht lebendig und läuft Gefahr, nach dieser Denkweise seine Legitimitätsgrundlage schrittweise zu verlieren.
Darstellungen einer Trübung von Meinungsfindungen durch populistische Einflüsse im Zusammenhang mit Volksentscheiden sind streitbar. Diese Argumentation, welcher sich auch zahlreiche Ihrer Fraktionskollegen bedienen, basiert vorzugsweise auf Annahmen mit einem Verweis auf unsere Historie. Wir leben jedoch nicht mehr in den 20iger und 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Unser Leben spielt sich unter deutlich anderen Lebensumständen als zu Zeiten der Weimarer Republik ab. Nichts gegen den Intellekt unserer Groß- und Urgroßeltern, aber es sind über 80 Jahre vergangen und unser Zeitgeist hat sich augenscheinlich doch etwas weiterentwickelt. Wir glauben nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes von populistischen Ausrichtungen so verführt werden können, um Populismus und Extremismus erstarken zu lassen. Außerdem -und das können wir nur immer und immer wieder betonen-, bietet Populismus, insofern es sich tatsächlich um einen solchen handelt, die ideale Plattform, um politisch korrekt, sachlich orientiert und ursachenreduzierend gegensteuern zu können. Herr Prof. Dr. Patzelt, auf welchen wir in unserer Bürgeranfrage bereits Bezug genommen haben stellt hierzu beispielsweise fest: […] Es ist durchaus nicht verwegen, auch in stabilen repräsentativen Demokratien ohne sonderliche Erfahrungen mit plebiszitären Instrumenten demokratie- und bürgerschaftskultivierende Wirkungen dieser Art zu erwarten, und es ist nicht erforderlich, von vornherein vom schlimmsten Fall auszugehen, wonach plebiszitäre Instrumente ganz einfach Populismus und Demagogie entfesseln oder zu inkonsistenter Politik führen müssen. Gegen beides ist auch der Parteienwettbewerb vor und nach Parlamentswahlen nicht gefeit! Welche „Kultur des Plebiszitären“ aber wirklich entsteht, wird im Einzelfall einesteils davon abhängen, ob die eingeführten plebiszitären Instrumente eine für repräsentative Demokratie hilfreiche Ausgestaltung erfahren, und andernteils davon, wie konstruktiv und sinngemäß die für die Prüfung der Zulässigkeit einer je konkreten Verwendung plebiszitärer Instrumente zuständigen Personen und Institutionen bei ihren Entscheidungen und deren Begründung verfahren […]
Der die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland gefährdende Prozess einer vehement zunehmenden Politik- und Wahlverdrossenheit und die damit verbundene Resignation des Bundesvolkes, kann nur durch die Einbindung plebiszitärer Elementen gestoppt und einer Umkehrung unterzogen werden. Beide Seiten, also Volk und Politik, können sich durch die Erweiterung unserer repräsentativen Demokratie mit plebiszitären Elementen wieder annähern. Sobald es üblich wäre, dass die Bürger auch während der Legislaturperiode folgenreiche Sachentscheidung zu treffen haben und nicht nur alle paar Jahre Prokura für das Regierungsgeschäft erteilen, würden praktische politische Bildungswirkungen garantiert nicht ausbleiben, was im Umkehrschluss der als steril erregten politischen Kultur entsprechend gut täte. Selbstverständlich sind verfassungsrechtliche Grenzen bei der Mitbestimmung des Bundesvolkes zu setzen und die Benachteiligung von Minderheiten ist durch Korrekturmöglichkeiten sowie ein integriertes mehrheitliches Abhilfebegehren auszuschließen. Auch die Hürde des Quorums, da stimmen wir Ihnen zu, ist in vielerlei Hinsicht zu überdenken, um einerseits zu gewährleisten, dass Initiativen und Referenden herbeiführbar bleiben, aber andererseits ein inflationärer und die Demokratie lähmender Gebrauch dieser direktdemokratischen Instrumente grundsätzlich vermieden wird.
In Anbindung an die bisherige Korrespondenz mit Ihren Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen und den daraus resultierenden Meinungen, Anregungen und Kritiken, werden wir den unterbreiteten Vorschlag zu unserer Bürgeranfrage vom 27.05.2015 entsprechend modifizieren und voraussichtlich bis zum Ende des Monats einen Gesetzentwurf zur Ermöglichung eines zweistufigen Volksgesetzgebungsverfahren aus der Mitte des Volkes und eines fakultativen Referendums auf Antrag des Volkes nebst entsprechender Kommentierung und rechtlicher Beurteilung zur Vorlage bringen. Die entsprechenden Unterlagen werden in Folge nochmalig an alle Bundestagsabgeordneten in der Hoffnung übermittelt, auf deren Grundlage nach der Parlamentspause eine fundierte Diskussion anregen zu können.

Ihr Fraktionskollege Arnold Vaatz, MdB, ist von dem bisherig eingebrachten Vorschlag unserer Initiative angetan und hat zugesagt, nach dem Vorliegen und einer Sichtung der vorgenannten Unterlagen, die Thematik einer Erweiterung des repräsentativen Demokratiegefüges mit plebiszitären Elementen auf Bundesebene, einer gesonderten Fraktionsdiskussion zuzuführen.

Bleibt zum Schluss festzuhalten, dass es erfreulich wäre, wenn Sie sich in Folge aktiv in eine themenbezogene Debatte einbringen.

Wir bedanken uns hierfür im Voraus und verbleiben

Mit freundlichen Grüßen

Reiko Beil
Initiative Dialog-2015

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Link zum Beitrag:

Quelle: dialog-2015 vom 22.07.2015


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