
Gesetzesabschaffendes Referendum
Abgeordnetenanfrage – persönlicher Brief
Sehr geehrter Herr Beil,
ich befasse mich seit Jahrzehnten – meiner Fakultas geschuldet – mit dem Zusammenhang von demokratie- und erkenntnistheoretischen Fragen. Ihrer These, dass die gewählten und damit demokratisch legitimierten Mitglieder von Parlamenten zunehmend weniger in der Lage seien, sachgerechte Lösungen für die akuten Probleme der Zeit zu finden, argumentiert – ich hoffe, ohne dies bewusst zu wollen – aus einer Position, die sich selbst im Besitz der Wahrheit in letzter Instanz wähnt. […]
[…] Wenn dies nicht der Fall sein sollte, was Sie sicher umgehend anmerken werden, stellt sich die Frage, wie sie die Unangemessenheit politischer Entscheidungen beurteilen können, denn dies gelingt nur, wenn Sie Ihre Position als Vergleichsmaßstab setzen. Damit kommen Sie aber in das logisch leider unausweichliche Dilemma, ihre Meinung absolut setzten zu müssen. Zumindest vertrete ich hier die Gegenthese, dass die parlamentarischen politischen Entscheidungen durchaus den gestellten Problemen der Zeit angemessen sind.
Mit dieser Gegenthese ist natürlich nichts gewonnen, weil wir dann beide in einer unendlichen Debatte uns gegenseitig versuchen nachzuweisen, dass der je andere falsch liegt. Das ist müßig.
Sie machen den Vorschlag, die eben angesprochene Debatte dadurch zu vermeiden, dass der Souverän selbst, also das Volk in seiner Gesamtheit, befragt werden sollte, um durch Plebiszit Wahrheit und Angemessenheit zu generieren. Eben diese Ihre Hoffnung ist erkenntnistheoretisch zumindest problematisch zu nennen. Kant hat dazu vor knapp 200 Jahren festgestellt, dass durch ein empirisches Urteil, ein solches wäre ein Plebiszit, also durch die numerische Addition vieler individueller Urteile dieser Art, nicht Wahrheit bzw. absolute Allgemeinheit entsteht, sondern, wie er es nennt, „komparative Allgemeinheit“. Man kann es auch schlichter sagen: Auch alle zusammen können sich irren. Mehrheit allein – und sei sie noch so umfassend – garantiert keine absolute Allgemeinheit, gleich Wahrheit schlechthin. Diese Erkenntnis voraussetzend haben sich alle modernen demokratischen Staaten für ein repräsentatives Staatsmodell entschieden, das mehr oder weniger oft und mit differenzierter Wirkungstiefe plebiszitäre Elemente einschließt.
Ich bin leider ziemlich sicher, dass man für die Annexion der Krim eine plebiszitäre Mehrheit in Russland fände, gleichwohl ist und bleibt die Annexion ein Verstoß gegen das geltende Völkerrecht. Und wie würden wir uns positionieren, wenn sich eine Mehrheit in Deutschland gegen die Rettung von Bootsflüchtlingen entschiede? Sie werden einwenden, dass eine solche Frage nicht gestellt werde, doch wer entscheidet, welche Frage dem Souverän vorgelegt wird und welche nicht? Und wer Ende der 50er- Anfang der 60er-Jahre einen Ausstieg aus der gerade beginnenden Atomkraft gefordert hätte, wäre, plebiszitäre Entscheidungsverfahren als gegeben vorausgesetzt, nicht in der Mehrheit gewesen. Als Willy Brandt im Dezember 1970 vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto kniete, wurde dies von der Opposition als Verrat an Deutschland apostrophiert. Ein deutscher Kanzler knie nicht, hieß es. Heute wissen wir, dass diese Geste entscheidend war und zu Recht ist das Bild in allen Geschichtsbüchern. Hätten Sie seinerzeit ein Plebiszit zur Ostpolitik gefordert? Wahrscheinlich wäre es sogar positiv gewesen, denn 1972 erzielte die SPD und mit ihr Brandt 45,8% – was aber immer noch keine absolute Mehrheit ist. Es könnte auch eine plebiszitäre Entscheidung darüber geben, keine KiTas mehr in Wohngebieten zu bauen, weil zu laut. Diese Debatten kennen Sie. Und fragen Sie einmal die Bürgerinnen und Bürger, in welchem Stadtteil die über den Königsteiner Schlüssel zugewiesenen Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Fragten sie in allen Stadtteilen separat, gäbe es wahrscheinlich ein umfassendes Nein. Deshalb muss und kann eine solche Entscheidung nur im repräsentativen Stadtparlament fallen, dass natürlich juristisch streng genommen kein Parlament ist.
Sie machen überdies den Vorschlag, Gesetze durch Plebiszit abschaffen zu können. Welche Gesetze können das sein? Gilt dies auch für das Straßenverkehrsrecht, um ein „harmloses“ Gesetz nehmen, und damit z.B. für die Tempo-50-Regelung innerorts? (Milton Friedmann hat das einmal gefordert.) Ist das Steuerrecht ausgenommen oder stünde es ebenfalls zur plebiszitären Disposition? Wie grenzt man One-Issue-Gesetze gegen komplexe Gesetze ab und wären letztere plebiszitfähig insgesamt oder nur in Teilen, wenn nein, warum nicht und wo ist die Grenze? Ich könnte die Kette der Problemanzeigen beliebig fortsetzen.
Wir Politiker sind tagtäglich im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. Wir befassen uns mit überaus komplexen Zusammenhängen und bei Lichte besehen, kann man der Politik nicht vorwerfen, sie wisse zu wenig über spezielle Sachverhalte, sondern viel eher, dass Debatten zu spezialisiert und sprachlich fachbezogen geführt werden. Mithin also eher ein Zuviel an Fachlichkeit, denn ein Mangel.
Wenn wir all dies abschließend einer Betrachtung zuführen, kommen wir zum Schluss, dass keiner – Sie nicht, ich nicht, eigentlich niemand überhaupt – im Besitz der Wahrheit in letzter Instanz ist, sondern wir in allen politischen Fragen einen Diskurs führen müssen. Diskurs bedeutet, es gilt der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas). Da wir nicht den unendlichen Diskurs der Engel führen können, müssen wir Entscheidungen herbeiführen. Dies geschieht stets über Mehrheiten, seien es parlamentarische oder plebiszitäre. Nie kommt Wahrheit heraus, sondern lediglich „komparative Allgemeinheit“ wie Kant das nannte. Mit dieser Unzulänglichkeit menschlicher Entscheidungen werden wir ad infinitum zu leben haben.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich im Lichte unserer Geschichte entschieden, eine repräsentative Demokratie zu inaugurieren. Diese Form ist von der Zeit nicht überholt, denn die Entscheidungen, die unserer Republik an der Wiege klangen – Westorientierung, NATO-Mitgliedschaft, Rentensystem um nur wenige Punkte zu nennen – waren nicht minder komplex und auch nicht weniger kompliziert als die aktuellen Themen. Unser Grundgesetz ist nach wie vor auf der Höhe der Zeit und damit auch die repräsentative Demokratie, die nicht weniger demokratisch ist, als plebiszitäre Formen. Was nicht bedeutet, dass diese Formen unmittelbarer Demokratie nicht Teil der Entscheidungsfindung sein können. Doch eben dies ist eine diskursive Frage.
Ich bin mir ziemlich sicher, Sie mit meinen Ausführungen nicht überzeugt zu haben. Doch eben dies ist Ausdruck und Erscheinung einer diskursiven Demokratie.
Mit freundlichen Grüßen
Arno Klare, MdB

dialog-2015 an Arno Klare (MdB/SPD) – Gesetzesabschaffendes Referendum
Sehr geehrter Herr Klare,
ganz lieben Dank für Ihre umfassende Antwort auf unsere Bürgeranfrage vom 27.05.2015. Wir sind froh darüber, dass es in der SPD-Bundestagsfraktion auch weiterhin unterschiedliche Meinungsbilder gibt und somit die Möglichkeit besteht, den angestrebten Dialog fortzuführen.
Festhalten möchten wir, dass grundsätzlich jede Rückäußerung nebst angebundener Korrespondenz in ungekürzter Fassung auf unserer Internetseite veröffentlicht wird. Entsprechend werden auch Ihre Zuarbeiten selbstverständlich der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu beachten ist, dass eingestellte PDF-Formate angeklickt werden müssen.
Dankenderweise habe Sie ausdrücklich von einer These und nicht von einer Unterstellung gesprochen, da unser Handeln teilweise von Ihren Bundestagskollegen falsch interpretiert wird und somit zu Befindlichkeiten führt, welche nicht zielführend und so auch nicht gewollt sind.
Unsere Meinung ist keinesfalls absolut, sondern wir befinden uns in einem fortlaufenden Meinungsfindungs- aber auch Lernprozess. Wir haben in den letzten Monaten sehr viel dazu gelernt und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass unsere repräsentative Demokratie ein durchdachtes und funktionales System darstellt. Wir haben feststellen müssen, wie schwer es ist, Demokratie zu leben und wir haben auch erfahren müssen, dass es noch schwerer ist, den Bürgerinnen und Bürgern, gelebte Demokratie und politisches Handeln zu vermitteln.
Unsere Bürgeranfrage basiert auf diesem vorgenannten Lernprozess. Waren wir anfänglich noch der Meinung, dass dem Wahlvolk nach Schweizer Vorbild, dass Recht eingeräumt werden sollte, bei jeder Gesetzverabschiedung mitzubestimmen, mussten wir im Laufe der Zeit feststellen, dass dieser Gedanke wenig zielführen ist und die eigentlichen von uns gesehenen Probleme dadurch nicht gelöst werden.
In diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass Ihre Aussage, die parlamentarischen politischen Entscheidungen sind den gestellten Problemen der Zeit großenteils angemessen, durchaus auch unsere Zustimmung findet.
Aber leider kann keiner, weder Bürger noch Parlamentarier, durch die Glaskugel schauen und nicht alle politischen Entscheidungen erreichen ihre gesetzten Ziele.
Keinesfalls sollen dem Wahlvolk Fragen zur Abstimmung vorgelegt werden! Volksabstimmungen müssen „von unten nach oben“ wirken und sind grundsätzlich von Referendumsinitiativen ersatzweise Begehren einzuleiten. Eine Umkehrwirkung „von oben nach unten“, also nach Gesichtspunkten politischer Opportunität, verstoßen gegen den Leitgedanken der Demokratie.
Unser Agieren liegt darin begründet, dass Politik dem Bürger nicht mehr verständlich erklärt wird. Wegen der fehlenden Erklärungen, warum politische Entscheidungen getroffen werden, welche Vor- oder Nachteile sich daraus ergeben können und in welche Richtung sich unser Land bewegt, resigniert ein Großteil der Bevölkerung mit dem Argument, „…Die da oben machen doch ohnehin, was sie wollen, und wir hier unten können daran sowieso nichts ändern…“. Das wiederum führt zu Resignation sowie Politik- und Wahlverdrossenheit.
Dem könnte man mit unserem Vorschlag zur politischen Einbindung des Wahlvolkes abhelfen.
Kommt es zu einer Initiative bzw. einem Begehren „von unten nach oben“ ist dass ein klares Alarmzeichen an die Politik, in Sachen Erklärungsnotstand oder Nachbesserungsbedarf dringend zu handeln. Versagt die Politik an dieser Stelle oder, was eher die Ausnahme sein wird, gibt es tatsächlich ein Gesetz oder Rechtsgut, welches dem Volk so schadet, dass ein Begehren das gesetzte Quorum erfüllt, muss die Konsequenz eines Referendums in Kauf genommen werden.
Da vor einem derartigen Referendum, wie aufgeführt, aber immer ein Volksbegehren mit einer entsprechend langer Vorlaufzeit und einem hohen Quorum steht, verschafft die Dauer des Begehrens den politisch Handelnden ein absichtlich gewolltes Zeitfenster. Diese Zeit muss durch die Politikerinnen und Politiker unseres Landes für den Fall, dass sich tatsächlich das Zustandekommen eines Referendums abzeichnet, dafür genutzt werden, dass Wahlvolk grundsätzlich über die Folgen einer etwaigen Gesetzabschaffung aufzuklären.
Die Politik muss Informationslücken schließen, oder entsprechende Nachbesserungen vorzunehmen, um dem Willen des Wahlvolkes entgegenzuwirken und somit das Erreichen des Quorums und folglich das Zustandekommen eines Referendums zu vermeiden.
Damit schließt sich automatisch auch der zwischenzeitliche überall feststellbare Graben zwischen Politik und Bürgern.
Wir hatten gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Fraktionen bereits mehrfach dargelegt, dass es nach unserer Auffassung in den wenigsten Fällen tatsächlich zu einem gesetzabschaffenden Referendum kommen wird, da spätestens mit dem Aufleben eines Volksbegehrens, welches ein gesetztes Quorum erreichen könnte, das politische Gegensteuern beginnt.
Beide Seiten, also Volk und Politik, würden sich durch die Erweiterung unserer repräsentativen Demokratie mit dem vorgeschlagenen plebiszitären Element wieder annähern. Selbstverständlich sind verfassungsrechtliche Grenzen bei der Mitbestimmung des Wahlvolkes zu setzen und die Benachteiligung von Minderheiten ist durch Korrekturmöglichkeiten des streitbaren Gesetzes sowie ein integriertes mehrheitliches Abhilfebegehren auszuschließen. Auch die Hürde des Quorums wäre in vielerlei Hinsicht zu überdenken, um einerseits zu gewährleisten, dass Volksbegehren herbeiführbar bleiben, aber andererseits ein inflationärer und die Demokratie lähmender Gebrauch dieses direktdemokratischen Instruments grundsätzlich vermieden wird.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Arnold Vaatz, MdB, ist von den bisherig eingebrachten Vorschlag unserer Initiative nicht abgeneigt und hat darum gebeten, das wir entsprechende Unterlagen zusammenstellen und zugesagt, nach deren Vorliegen und Sichtung, die Thematik einer Erweiterung des repräsentativen Demokratiegefüges mit plebiszitären Elementen auf Bundesebene, einer Fraktionsdiskussion zuzuführen. Nicht zuletzt auch auf Grundlage der bisherig hier eingegangenen Antworten, werden wir diese Unterlagen versuchen, so umfassend und fundiert aufzuarbeiten, dass die verschiedenen Meinungsbilder der Abgeordneten aus verfassungsrechtlichen, parlamentarischen und demokratischen Gesichtspunkten entsprechend tangiert werden und somit eine offene Diskussion zulassen. Diese für die CDU/CSU-Fraktion aufgearbeiteten Unterlagen werden wir auch den anderen Fraktionen in der Hoffnung zu Verfügung stellen, dass wir dort ebenfalls eine fundierte Diskussion über die aufgeworfene Thematik anregen können. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich mit Ihren Erfahrungen hieran beteiligen und verbleiben vorerst
Mit freundlichen Grüßen
Reiko Beil
Initiative Dialog-2015

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Quelle: dialog-2015 vom 07.07.2015