
Gesetzesabschaffendes Referendum
Abgeordnetenanfrage – persönlicher Brief
Sehr geehrter Herr Beil,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 27.05.2015, das ich gerne beantworte.
Ich stimme Ihnen zu, dass unsere Demokratie mündige, engagierte und verantwortlich handelnde Bürgerinnen und Bürger braucht. […]
[…] Gerade dort, wo es darum geht, das persönliche Lebensumfeld mitzugestalten, sehe ich umfassende Bürgerbeteiligung im Vorfeld wichtiger Entscheidungen als unverzichtbares Instrument, um Entscheidungsprozesse transparent und somit nachvollziehbar zu machen, die Qualität der Entscheidungen zu erhöhen und deren Akzeptanz zu stärken. Als Kreisvorsitzender der CDU Karlsruhe setze ich mich für eine verstärkte Mitmach- und Beteiligungskultur ein, die gerade junge Menschen animieren soll, sich aktiv und bürgerschaftlich einzubringen.
In Bezug auf die stärkere Nutzung von Elementen direkter Demokratie ist mir wichtig, sowohl den Zusammenhang von Entscheidung und Verantwortlichkeit als auch die Belange der Bürgerinnen und Bürger im Blick zu behalten, die keine Stimme haben oder ihre Stimme nicht erheben. Bürgerbeteiligung darf nicht das Privileg der Starken und Lauten sein, sondern muss faire Beteiligungsmöglichkeiten für alle Bürgerinnen und Bürger bieten.
Zugleich haben die Bürger einen Anspruch darauf, dass die gewählten Volksvertreter ihre Arbeit tun und am Gemeinwohl orientierte, nachhaltige Entscheidungen treffen. Es entspricht meinem Verständnis, dass Abgeordnete im Sinne der Bürgerinnen und Bürger entscheiden. Um die Bürgermeinung noch besser zu kennen, sollten wir bei wichtigen Themen – insbesondere in der Kommunalpolitik – verstärkt Bürgerbefragungen durchführen. Da das Instrument der Bürgerbefragung nicht durch rechtliche Vorgaben eingeschränkt ist, kann die Fragestellung passgenau auf die örtliche Situation zugeschnitten werden, um die tatsächliche Interessenslage der Bürger zu erfassen und bei den Entscheidungen im Gemeinderat zu berücksichtigen.
Das von Ihnen angeregte gesetzabschaffende Referendum halte ich dagegen für kein geeignetes Mittel, um die Demokratie zu stärken. An der letzten Bundestagswahl haben sich nach dem endgültigen amtlichen Endergebnis 44.309.925 Wählerinnen und Wähler beteiligt. 29.417.661 Wählerinnen und Wähler haben dabei ihre Zweitstimme einer der drei an der Großen Koalition beteiligten Parteien gegeben. Dadurch verfügen die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen und die von ihnen getragene Bundesregierung bei der Gesetzgebung über eine sehr starke Legitimation. Nach Ihrem Vorschlag könnten nun Gesetze, die von dieser Koalition beschlossen wurden, durch die Stimmen von 1.548.673 Wahlberechtigten wieder abgeschafft werden, weil nur 2,5 % der 61.946.900 Wahlberechtigten (Stand: 2013) ein entsprechendes Begehren unterstützen müssten und es beim anschließenden Referendum kein Quorum mehr geben würde. Dies scheint mir nicht schlüssig und wenig zielführend.
Mit freundlichen Grüßen
Ingo Wellenreuther, MdB

dialog-2015 an Ingo Wellenreuther (MdB/CDU) – Gesetzesabschaffendes Referendum
Sehr geehrter Herr Wellenreuther,
vielen Dank für Ihre Rückantwort und die fundierten Überlegungen.
Wir freuen uns mit Ihnen übereinzustimmen, dass unsere Demokratie auf die von Ihnen als Mitmach- und Beteiligungskultur definierte Einbringung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist.
Auch stimmen wir überein, dass eine Erweiterung unseres repräsentativen Demokratiegefüges mit plebiszitären Elementen, Schwache und Minderheiten nicht benachteiligen darf sowie ausgewogen und fair gegenüber allen Gruppen funktionieren muss. Die Arbeit der gewählten Volksvertreter darf hierbei nicht behindert und die Grundprinzipien der Arbeitsteilung zwischen Wahlvolk und Volksvertreter dürfen nicht beeinträchtigt werden.
Das von Ihnen angeregte Mittel einer Bürgerbefragung, ist aus unserer Sicht zur Lösung der Politik- und Wahlverdrossenheit und den damit verbundenen Gefahren für die gelebte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland allerdings nicht ausreichend bzw. würde am Ziel vorbeiführen. Es löst das eigentliche Kernproblem nicht. Fragt die Politik die Bürgerinnen und Bürger zu bestimmten Themen nach ihrer Meinung, ist dies ein Handeln von oben nach unten. Die tatsächlichen Probleme des Souveräns können so entweder nur in Fragmenten aufgegriffen werden oder würden am politischen Alltag vorbeigehen. Auch die Umsetzbarkeit einer solchen bundesweit repräsentativen Umfrage erschließt sich uns nicht. Auf kommunalpolitischer Ebene dürfte ein derartiges Instrument eingeschränkt seine Wirksamkeit entfalten können, aber auf Bundesebene hegen wir hierzu ernsthafte Zweifel.
Die von Ihnen angeschnittenen Bedenken in Zusammenhang mit dem Quorum sind streitbar, da geben wir Ihnen Recht. Allerdings basieren die vorgeschlagenen 2,5 % auf dem Standpunkt, dass der Souverän überhaupt in der Lage sein muss, ein zielführendes Begehren, welches in Folge zu einem Referendum führen kann, herbeizuführen. 1.548.673 Wahlberechtigte in einem mit Frist unterlegten Zeitraum für ein Begehren zu mobilisieren, dürfte genügend Aufmerksamkeit erzeugen, um Politik und Bürger gleichermaßen hellhörig zu machen. Das Begehren dient als Alarmzeichen an die Politik, in Sachen Erklärungsnotstand oder Nachbesserungsbedarf dringend zu handeln. Erst wenn die Politik an dieser Stelle versagt oder, was eher die Ausnahme (!) sein wird, tatsächlich ein Gesetz oder Rechtsgut verabschiedet wurde, welches dem Volk so stark schadet, dass ein Begehren das geforderte Quorum erfüllt, müsste die Konsequenz eines Referendums in Kauf genommen werden. Die Polarisierung eines möglichen Referendums würde mit Sicherheit einen repräsentativen Beteiligungszulauf nach sich ziehen.
Beachtet werden muss, dass selbstverständlich bestimmte Gesetze und Rechtsgüter von einem Referendum auszugrenzen sind. Hierzu zählen Haushalts- und Abgabengesetze, die Todesstrafe, die Grundrechte und Gesetze in Zusammenhang mit dem Schutz von Minderheiten. Auch die Gesetzbücher für Strafrecht (StGB), Handelsrecht (HGB) und Bürgerecht (BGB) sollten in ihrer Kompaktheit nicht antastbar sein.
Kurz eingehen möchten wir auf die von Ihnen benannten Zahlen der Bundestagswahl 2013. Die CDU/CSU und die SPD erhielten, wie von Ihnen richtig dargestellt 29.417.661 Zweitstimmen. Wahlberichtig waren im Jahr 2013 insgesamt 61.946.900 Bürgerinnen und Bürger. Entsprechend wären, würde man Ihrer Darstellungen folgen, die vorgenannten Koalitionsfraktionen und die von diesen gestellte Bundesregierung lediglich von 47,5 % der wahlberechtigen Bürgerinnen und Bürger für eine Gesetzgebung legitimiert. Das ist Zahlenspielerei. So lässt sich nach unserer Meinung das Thema nicht angehen. Zu beachten ist hierbei auch, dass eine Bundestagswahl ebenfalls nicht an ein Quorum gebunden ist. Was würde passieren, wenn bei der nächsten Wahl 2017, die Wahlbeteiligung auf das Niveau der letzten Landtagswahlen fällt? Um das zu vermeiden, suchen wir nach Lösungen, welche auch an Kompromisse gebunden sein müssen. Dies steht außer Frage, selbstverständlich auch was die Höhe eines Quorums betrifft.
Wir erlauben uns abschließend, kurz auf eine öffentliche Anhörung des Verfassungs- und Rechtsausschusses des Sächsischen Landtages am 24.06.2015, in Verbindung mit dem durch LINKE und GRÜNE eingebrachten Gesetzentwurf „Gesetz zur Stärkung der direkten Demokratie im Freistaat Sachsen“, einzugehen.
In dieser Anhörung wurde Herr Prof. Dr. Patzelt, welcher, wie wir in unserer Bürgeranfrage aufgeführt haben, der wissenschaftliche Verfechter eines gesetzabschaffenden Referendums ist, als Gutachter angehört. Mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis geben wir nachfolgend einen Ausschnitt seiner gutachterlichen Ausführungen vor dem Landtagsausschuss wie folgt wieder:
[…] Einführung des gesetzesaufhebenden Referendums.
a) Es ist entspricht nicht nur dem Rang des Volkes als gleichberechtigtem Gesetzgeber, sondern ist auch um der Demokratie willen wünschenswert, ein gesetzesaufhebendes Referendum einzuführen.
- Erstens erschwert das gesetzesaufhebende Referendum sogar einer im Parlament übermächtigen Regierungsmehrheit das „Durchregieren“ gegen Wünsche des Volkes, die sich in einer Abstimmungsmehrheit ausdrücken. Das minderte in demokratieförderlicher Weise jene „Arroganz der Macht“, die sich immer wieder – vor allem: nach Regierungswechseln – einzustellen pflegt.
- Zweitens zwingt die Möglichkeit eines gesetzesaufhebenden Referendums die Opposition politisch immer wieder zum Nachweis von Behauptungen dahingehend, die Regierungsmehrheit stelle sich mit einem bestimmten Gesetzgebungsvorhaben in einen Gegensatz zur Bevölkerung. Das erlegt auch der Opposition einen gewissen Realitätsdruck auf, weil auch sie damit rechnen muss, sich bei einem gesetzesaufhebenden Referendum nicht durchsetzen zu können.
- Drittens eröffnet das gesetzesaufhebende Referendum einen weiteren Weg, einen im Parlament verlorenen politischen Konflikt neu auszufechten.
Bislang ist die Opposition darauf angewiesen, politisch Abgelehntes zum verfassungsrechtlichen Streitgegenstand zu machen. Wer aber ein Gesetz vor das Verfassungsgericht bringt, erntet Verfassungsrechtsprechung, die im Lauf der Zeit die parlamentarischen Gestaltungsspielräume immer mehr einengt. Ferner wirken abstrakte Normenkontrollverfahren auf viele Bürger so, als wolle ein Teil der politischen Klasse sehenden Auges die Verfassung brechen. Beides tut repräsentativer Demokratie nicht gut.
Das gesetzesaufhebende Referendum hingegen brächte – um den Preis eines einzugehenden politischen Risikos – einen im Parlament verlorenen politischen Konflikt vor das Volk als alternativen Gesetzgeber. Das entspräche voll dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie, wonach das Parlament das erste Wort haben muss, das Volk aber das Recht auf das letzte Wort hat.
b) Nicht der Stärkung direkter Demokratie dient es allerdings, wenn ein gesetzesaufhebendes Referendum nicht vom Volk selbst herbeigeführt werden kann.
- Auf diese Weise wird das Volk – obschon doch gleichberechtigter Gesetzgeber – einfach zum „Mündel des Parlaments“ gemacht. Es darf laut vorliegendem Gesetzentwurf durch einen Volksantrag nur darum bitten, das Parlament möge über die Änderung oder Aufhebung eines Gesetzes debattieren, hat aber keine Möglichkeit, die Entscheidung über das Inkrafttreten eines Gesetzes selbst herbeizuführen.
- Ferner wird gerade der zentrale Vorteil direktdemokratischer Instrumente nicht erreicht, wenn es Abgeordneten anvertraut ist, ein gesetzesaufhebendes Referendum herbeizuführen. Der Demokratie willen herbeizuführen ist nämlich solche politische Kommunikation, die sich in der Zivilgesellschaft im Streit um eine reale Entscheidungsfrage entwickelt. Genau zu diesem Zweck müssen direktdemokratische Instrumente so ausgestaltet sein, dass die Diskussion um ihre Nutzung in erster Linie im Volk geführt wird – und nicht vor allem in den Reihen der politischen Klasse.
- Genau letzteres wäre aber der Fall, wenn die vergleichsweise wenigen Abgeordneten von ein, zwei (Oppositions-) Fraktionen untereinander zur Vereinbarung kämen, es solle ein gesetzesaufhebendes Referendum durchgeführt werden. Deshalb ist eine solche Herbeiführung des gesetzesaufhebenden Referendums abzulehnen.
c) Besser wäre eine Regelung der folgenden Art:
- Ein gesetzesaufhebendes Referendum kann nie vom Parlament, sondern nur vom Volk herbeigeführt werden, und zwar durch Volksantrag auf Durchführung eines gesetzesaufhebenden Referendums. Das erweiterte im Grunde nur die im Gesetzentwurf ohnehin vorgesehenen Inhalte von Volksanträgen.
- Für diesen Volksantrag wäre ein Prozentsatz der Abstimmungsberechtigten zwischen einem Prozent (wie für den normalen Volksantrag vorgesehen) und fünf Prozent (wie für einen Volksentscheid im Volkgesetzgebungsverfahren verlangt) festzulegen
- Dieser Prozentsatz sollte so angesetzt werden, dass zwar gesetzesaufhebende Volksabstimmungen praktisch herbeiführbar sind, diese Hürde aber einen inflationären und die Gesetzgebungstätigkeit lähmenden Gebrauch dieses direktdemokratischen Instruments ausschlösse.
- Es ist erforderlich, in der Verfassung eine Frist für die Sammlung der erforderlichen Unterschriften festzulegen. Es böten sich 100 Tage an […]
Da unsere Bürgerinitiative vorerst einen grundsätzlichen Dialog mit den Bundestagsabgeordneten sucht und bestrebt ist, bisherig eingenommen Positionen einer Überdenkung zuzuführen, bitten wir Sie, sich die Zeit zur nochmaligen Überarbeitung unseres Grundanliegens zu nehmen.
Ihr Fraktionskollege Arnold Vaatz, MdB hat den Vorschlag unserer Initiative aufgenommen und sich bereit erklärt, nach notwendiger Zuarbeit, welche wir hoffen bis 20.07.2015 liefern zu können, dass aufgeworfenen Thema Fraktionsintern einer Diskussion zuzuführen.
Wir würden uns freuen, wenn Sie sich in Folge entsprechend in diese Thematik einbringen können.
Vorerst verbleiben wir in positiver Erwartung
Mit freundlichen Grüßen
Reiko Beil
Initiative Dialog-2015

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Quelle: dialog-2015 vom 29.06.2015