
Gesetzesabschaffendes Referendum
Abgeordnetenanfrage – persönlicher Brief
Sehr geehrter Herr Beil,
haben Sie vielen Dank für Ihr Schreiben vom 27.05.2015 auf das ich Ihnen gerne antworten möchte.
Ihrem Vorschlag eines gesetzabschaffenden Referendums stehe ich kritisch gegenüber. […]
[…] Im Rahmen der Arbeit des Deutschen Bundestages findet eine Evaluation von Gesetzen statt. So wird bereits jetzt dafür Sorge getragen, dass mögliche negative Aus-wirkungen von Gesetzen behoben werden können.
Zum Thema Volksentscheide möchte ich anmerken, dass sich die Union zur repräsen-tativen Demokratie bekennt, in der politische Führung und demokratische Verantwor-tung wirksam miteinander verbunden werden. Repräsentative Demokratie schließt al-lerdings auch Elemente unmittelbarer Demokratie nicht aus. Auf den regionalen Ebenen können diese das repräsentative System sinnvoll ergänzen. Im Grundsatzprogramm der CDU von 2007 sind diese Prinzipien deutlich herausgestellt.
Auf Landes- und Kommunalebene, wo es um Problemlösungen vor Ort geht, kann die Stimme des Bürgers in unserem föderalen System auf vielfältige Weise Ausdruck fin-den, etwa bei Befragungen sowie durch Bürgerinitiativen und Bürgerentscheide. Auf Bundesebene jedoch könnten Volksentscheide oder ähnliche Verfahren den oft kom-plexen Fragen unserer Gesellschaft kaum gerecht werden. Naturgemäß können die meisten Volksentscheide nur einfache „Ja“ oder „Nein“ Antworten anbieten. Die Gesetzgebung ist oftmals aber sehr vielschichtig und muss eine kaum überschaubare Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen berücksichtigen. Um hier zu zufriedenstellenden Antworten zu gelangen, wird im Deutschen Bundestag auf dem Wege der Gesetzgebung ein Verfahren angewandt, dass ein hohes Maß thematischer Tiefe und Flexibilität
erlaubt. Durch drei Lesungen, Ausschussberatungen, Sachverständigenanhörungen und Berichterstattergesprächen wird eine ausgewogene und faire Gesetzesfindung sichergestellt. Dabei schafft der Weg des „lernenden Verfahrens“ Spielräume, um Änderungen und Anpassungen berücksichtigen zu können.
Volksentscheide erlauben eine solche detailreiche Abstimmung hingegen nicht. Die unangemessene Verkürzung vieler Sachthemen könnte leicht zu populistisch beeinflussten Ergebnissen führen, bei denen die notwendigen Kompromisse der parlamentarischen Diskussion auf der Strecke blieben. Dies würde insbesondere zu Lasten von Minderheiten und gesellschaftlich benachteiligten Gruppen gehen. Ebenso gilt dies auch für Ihren Vorschlag eines gesetzabschaffenden Referendums.
Während Elemente der direkten Demokratie im kommunalen Bereich eine sinnvolle und praxistaugliche Ergänzung sein können, halte ich diese auf Bundesebene nicht für geeignet. In den vergangenen 65 Jahren hat sich das System der repräsentativen Demokratie in Deutschland bewährt und sich als Garant für Stabilität und soziale Gerechtigkeit erwiesen. Ich hoffe, sehr geehrter Herr Beil, Ihnen mit dieser Antwort behilflich gewesen zu sein.
Mit freundlichen Grüßen
Matern von Marschall, MdB

dialog-2015 an Matern von Marschall (MdB/CDU) – Gesetzesabschaffendes Referendum
Sehr geehrter Herr von Marschall,
herzlichen Dank für Ihre ausführliche Rückäußerung.
Bitte erlauben Sie uns, kurz auf einige Positionen Ihres Schreibens einzugehen.
Wir schließen uns Ihrer Meinung an, dass die Einbindung der Bevölkerung auf kommunaler Ebene wichtig ist. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass eine derartige Einbindung im aktuellen und fortlaufenden Zeitgeschehen bei der Bevölkerung immer weniger Beachtung finden wird. Grund hierfür ist, dass die Menschen in der heutigen Zeit nicht mehr sesshaft sind. Laut Statistik wechseln jährlich ca. 5,5 Millionen Haushalte, was wiederum ca. 10 Millionen Personen betrifft, in Deutschland ihren Wohnraum. Davon entfallen 48 % der Personen auf einen generellen Ortswechsel. 52 % ziehen innerhalb der gleichen Stadt und Gemeinde um. Bricht man die Statistik auf die wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland herunter, zieht jeder Wähler innerhalb von 12 Jahren mindestens einmal in eine andere Gemeinde oder eine andere Stadt, was wiederum an Beruf, Karriere oder Familie gekoppelt ist. Die Integration und Bindung zum Wohnort, wie man Sie noch vor 20 Jahren erleben konnte, ist heute nicht mehr gegeben. Durch eine schwindente Ortsverbundenheit stagniert parallel das Interesse der Bevölkerung, sich in kommunale Entscheidungen mit einzubringen.
Skeptisch sehen wir, wenn darauf abgestellt wird, dass staatliche Planung in Form von Gesetzen, den Weg der etablierten Rechtsförmlichkeit, unter Verweis auf die Komplexität, nicht verlassen darf. Dieser Argumentation halten wir entgegen, dass es sich aus unserer Sicht bei Gesetzen nicht um eine juristische Materie handelt, auf welche sich eine etwaige Bürgerbeteiligung generell nachteilig auswirkt. Diese Auffassung ähnelt zu sehr dem Leitgedanken einer Obrigkeitsstaatlichkeit in der Form, dass ein Recht zu Gemeinwohl alleinig durch Juristenhand entsteht. Demokratie bleibt aus unserer Sicht so nicht lebendig und läuft Gefahr, nach dieser Denkweise seine Legitimitätsgrundlage schrittweise zu verlieren.
Die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland stellt ein durchdachtes und funktionales System dar. Unser Bestreben ist es entsprechend nicht, die repräsentative, parlamentarische Demokratie zu verbessern, sondern diese zu erweitern. Begründet sei dies damit, dass getroffene parlamentarisch politische Entscheidungen dem Wahlvolk nicht mehr verständlich erklärt werden. Wegen der fehlenden Erklärungen, welche Vor- oder Nachteile sich daraus ergeben können und in welche Richtung sich unser Land bewegt, resigniert ein Großteil der Bevölkerung mit dem Argument, “…Die da oben machen doch ohnehin, was sie wollen, und wir hier unten können daran sowieso nichts ändern…”. Das wiederum führt zu Politik- und Wahlverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger, welche in politischen Kreisen mitunter auch als mangelnde politische Bildung des Volkes bezeichnet wird. Diesem für unsere Demokratie wie ein Pilzgewächs schadenden Prozess der Resignation, kann mit unserem Vorschlag zur politischen Einbindung des Wahlvolkes abgeholfen werden.
Kommt es zu einer Initiative bzw. einem Begehren auf Antrag des Volkes, ist dass ein klares Alarmzeichen an die Politik, in Sachen Erklärungsnotstand oder Nachbesserungsbedarf dringend zu handeln. Die Dauer des Begehrens schafft den politisch Handelnden ein gewolltes Zeitfenster. Diese gegebene Zeit muss durch die politische Elite unseres Landes dafür genutzt werden, dass Wahlvolk grundsätzlich über die Folgen der etwaigen Tangierung eines streitbaren Gesetzes aufzuklären. Die Politik ist gefordert Informationslücken zu schließen, oder entsprechende Nachbesserungen vorzunehmen, um dem Willen des Wahlvolkes entgegenzuwirken und somit das Erreichen eines Quorums und folglich das Zustandekommen eines Referendums abzuwenden. Versagt die Politik allerdings an dieser Stelle oder, was eher die Ausnahme sein wird, gibt es tatsächlich ein Gesetz oder Rechtsgut, welches dem Volk so schadet, dass ein Begehren das gesetzte Quorum erfüllt, muss die Konsequenz eines Referendums getragen werden. Wir sind der Auffassung, dass es in den wenigsten Fällen tatsächlich zu einem Referendum kommen wird, da spätestens mit dem Aufleben eines Volksbegehrens, welches ein gesetztes Quorum erreichen könnte, das politische Gegensteuern beginnt. Beide Seiten, also Wahlvolk und Politik, könnten sich durch die Erweiterung unserer repräsentativen Demokratie mit dem vorgeschlagenen plebiszitären Element wieder annähern. Der zwischenzeitlich in fast allen Bereichen unserer Gesellschaft feststellbare Graben zwischen Politik und Bürgern würde sich so wieder anfangen zu schließen. Sobald es üblich wäre, dass die Bürger auch während der Legislaturperiode folgenreiche Sachentscheidung zu treffen haben und nicht nur alle paar Jahre Prokura für das Regierungsgeschäft erteilen, würden praktische politische Bildungswirkungen garantiert nicht ausbleiben, was im Umkehrschluss der als steril erregten politischen Kultur entsprechend gut täte.
Selbstverständlich sind verfassungsrechtliche Grenzen bei der Mitbestimmung des Wahlvolkes zu setzen und die Benachteiligung von Minderheiten ist durch Korrekturmöglichkeiten des streitbaren Gesetzes sowie ein integriertes mehrheitliches Abhilfebegehren auszuschließen. Auch die Hürde des Quorums wäre in vielerlei Hinsicht zu überdenken, um einerseits zu gewährleisten, dass Volksbegehren herbeiführbar bleiben, aber andererseits ein inflationärer und die Demokratie lähmender Gebrauch dieses direktdemokratischen Instruments grundsätzlich vermieden wird.
Darstellungen einer Trübung von Meinungsfindungen durch populistische Einflüsse im Zusammenhang mit Volksentscheiden sind streitbar. Diese Argumentation, welcher sich auch zahlreiche Ihrer Fraktionskollegen bedienen, basiert vorzugsweise auf Annahmen mit einem Verweis auf unsere Historie. Wir leben jedoch nicht mehr in den 20iger und 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Unser Leben spielt sich unter deutlich anderen Lebensumständen als zu Zeiten der Weimarer Republik ab. Nichts gegen den Intellekt unserer Groß- und Urgroßeltern, aber es sind über 80 Jahre vergangen und unser Zeitgeist hat sich augenscheinlich doch etwas weiterentwickelt. Wir glauben nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes von populistischen Ausrichtungen so verführt werden können, um Populismus und Extremismus erstarken zu lassen. Außerdem -und das können wir nur immer und immer wieder betonen-, bietet Populismus, insofern es sich tatsächlich um einen solchen handelt, die ideale Plattform, um politisch korrekt, sachlich orientiert und ursachenreduzierend gegensteuern zu können. Herr Prof. Dr. Patzelt, auf welchen wir in unserer Bürgeranfrage bereits Bezug genommen haben stellt hierzu unter anderem fest:
[…] Es ist durchaus nicht verwegen, auch in stabilen repräsentativen Demokratien ohne sonderliche Erfahrungen mit plebiszitären Instrumenten demokratie- und bürgerschaftskultivierende Wirkungen dieser Art zu erwarten, und es ist nicht erforderlich, von vornherein vom schlimmsten Fall auszugehen, wonach plebiszitäre Instrumente ganz einfach Populismus und Demagogie entfesseln oder zu inkonsistenter Politik führen müssen. Gegen beides ist auch der Parteienwettbewerb vor und nach Parlamentswahlen nicht gefeit! Welche „Kultur des Plebiszitären“ aber wirklich entsteht, wird im Einzelfall einesteils davon abhängen, ob die eingeführten plebiszitären Instrumente eine für repräsentative Demokratie hilfreiche Ausgestaltung erfahren, und andernteils davon, wie konstruktiv und sinngemäß die für die Prüfung der Zulässigkeit einer je konkreten Verwendung plebiszitärer Instrumente zuständigen Personen und Institutionen bei ihren Entscheidungen und deren Begründung verfahren […]
In Anbindung an die bisherige Korrespondenz mit Ihren Bundestagskolleginnen und Kollegen und den daraus resultierenden Meinungen, Anregungen und Kritiken, werden wir den unterbreiteten Vorschlag zu unserer Bürgeranfrage vom 27.05.2015 weiter modifizieren und voraussichtlich bis zum Ende des Monats einen Gesetzentwurf zur Ermöglichung eines fakultativen Referendums auf Antrag des Volkes, nebst entsprechender Kommentierung und rechtlicher Beurteilung zur Vorlage bringen. Die entsprechenden Unterlagen werden in Folge nochmalig an alle Bundestagsabgeordneten in der Hoffnung übermittelt, auf deren Grundlage nach der Parlamentspause eine fundierte Diskussion anregen zu können.
Ihr Fraktionskollege Arnold Vaatz, MdB, ist von dem bisherig eingebrachten Vorschlag unserer Initiative angetan und hat zugesagt, nach dem Vorliegen und einer Sichtung der vorgenannten Unterlagen, die Thematik einer Erweiterung des repräsentativen Demokratiegefüges mit plebiszitären Elementen auf Bundesebene, einer gesonderten Fraktionsdiskussion zuzuführen. Wir werden versuchen, diese Unterlagen so umfassend und fundiert aufzuarbeiten, dass die verschiedenen Meinungsbilder der Abgeordneten aus verfassungsrechtlichen, parlamentarischen und demokratischen Gesichtspunkten entsprechend einfließen.
Es wäre erfreulich, wenn Sie sich in Folge aktiv in die avisierte Debatte einbringen.
Wir bedanken uns nochmals und verbleiben vorerst
Mit freundlichen Grüßen
Reiko Beil
Initiative Dialog-2015

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Quelle: dialog-2015 vom 14.07.2015