
Gesetzesabschaffendes Referendum
Abgeordnetenanfrage – persönlicher Brief
Sehr geehrter Herr Beil,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 27. Mai, in dem Sie nach meiner Meinung bezüglich Ihres Vorschlages eines gesetzabschaffenden Referendums gefragt haben.
Ihre Einschätzung, dass politisches Handeln gut und intensiver erklärt werden muss, teile ich.
Allerdings […]
[…] teile ich nicht Ihre Wahrnehmung, dass der demokratische Grundgedanke in unserem Land erheblich gefährdet und im „jetzigen Systemgefüge“ in Frage zu stellen ist.
[…]
Mit freundlichen Grüßen
Michael Vietz, MdB

dialog-2015 an Michael Vietz (MdB/CDU) – Gesetzesabschaffendes Referendum
Sehr geehrter Herr Vietz,
vielen Dank für Ihre ausführliche Rückantwort.
Bei der von Ihnen als „Massen-Serienbrief“ bezeichneten Bürgeranfrage vom 27.05.2015 handelt es sich um eine Bürgeranfrage an alle 631 Bundestagsabgeordneten. Die inhaltlichen Ausführungen des Ihrerseits als „Massen-Serienbrief“ bezeichnenden Schreibens sind das Ergebnis eines bürgerlich politischen Lernprozesses einfacher Leute, die mit Ihren materiellen Möglichkeiten und sehr viel investierter Zeit versuchen, eine Brücke zu schlagen, über den Graben zwischen Volk und Politik, welchen Sie als solchen augenscheinlich nicht wahrnehmen, der aber täglich immer größer wird. Es ist der Versuch das Kernproblem des wechselseitigen nicht Verstehens zwischen Politik und Bürger sachlich zu lösen und diesbezüglich entsprechend ernst genommen zu werden.
Innerhalb von 3 Wochen haben bisherig von 631 Abgeordneten lediglich 30 Abgeordnete auf unsere Anfrage geantwortet. 2 Abgeordnete haben aus dienstlichen oder privaten Gründen mitgeteilt, sich zeitversetzt zu melden. Die Ausführungen „volksnah & fleißig“ wurden Ihrerseits leider ein wenig aus dem Kontext gerissen und verwischt somit das Grundanliegen unserer Bürgeranfrage. Wir betrachten den Sachstand, dass rund 600 Ihrer Kolleginnen und Kollegen auf die Bürgeranfrage bisherig nicht geantwortet haben, mit gemischten Gefühlen.
Der Artikel 17 des Grundgesetzes ist bekannt und wurde in den vergangenen Jahren auch schon mit mäßigem Erfolg tangiert. Ihr Meinungsbild das aus 15.325 Petitionen abgeleitet werden kann, dass die Menschen in unserem Land mit dem politischen Agieren zufrieden sind, können wir nicht teilen. Der Petitionsausschuss des Bundestages, welcher auf parlamentarischer Ebene auch als Seismograf des Parlamentes definiert wird und sich selbst wie in der Einführung des Jahresberichtes 2014 ersichtlich ist, als Abteilung Controlling des Unternehmens Deutscher Bundestag bezeichnet, stellt in diesem Bericht unter anderem folgendes klar: „…Trotz dieser beeindruckenden Zahlen besteht der Kernbereich unserer Arbeit aber nach wie vor in der Suche nach Abhilfe in höchstpersönlichen Notlagen, wie beispielsweise die Erteilung eines Visums oder die Finanzierung eines Rollstuhls. Denn dies sind für den Einzelnen existenzielle Probleme, für deren Lösung sich der Petitionsausschuss mit ganzer Kraft einsetzt. (…) Durch das Gewaltenteilungsprinzip unserer Verfassung sind unserer Arbeit aber auch gewisse Grenzen gesetzt, denn der Petitionsausschuss kann die Bundesregierung zwar auffordern, dem Anliegen von Petitionen zu entsprechen; zu einem positiven Handeln kann er sie jedoch nicht zwingen. Umso erfreulicher ist es daher, wenn der Petitionsausschuss einem Bürger oder einer Bürgerin helfen konnte…“ Petition sind somit kein wirksames Instrument unser repräsentatives Demokratiegefüge den aktuellen Zeitgeschehen anzupassen.
Ihrem Antwort zur Bürgeranfrage und der diesbezüglichen Positionierung entnehmen wir, dass Sie unser Ziel einer wechselseitigen Annäherung von Politik und Bürger nicht richtig interpretieren.
Die gewissenhafte parlamentarische Gesetzgebungsarbeit wird von uns keinesfalls in Frage gestellt. Der Blick durch die Glaskugel ist leider nicht nur der Politik sondern auch dem Volk verwehrt. Die kollektive Intelligenz, von Ihnen als „Schwarmintelligenz“ bezeichnet, ist für eine Prognose in die Zukunft nicht geeignet. Aber das ist auch nicht unser Thema. Der Ansatz des Vorschlages für ein gesetzabschaffenden Referendums liegt darin, dass Politik dem Bürger nicht mehr verständlich erklärt wird und der Souverän das Gefühl hat, dass politische Entscheidungen ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen werden. Das macht den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes Angst.
Wegen der fehlenden Erklärungen, warum politische Entscheidungen getroffen werden, welche Vor- oder Nachteile sich daraus ergeben können und in welche Richtung sich der Zug bewegt, resigniert ein Großteil der Bevölkerung mit dem Argument, „…Die da oben machen doch ohnehin, was sie wollen, und wir hier unten können daran sowieso nichts ändern…“.
Die Politiker wiederum zeigen sich über ein derartiges Bürgerverhalten verwundert, verärgert und oft auch beleidigt, da sie der Meinung sind, tagtäglich alles zum Wohl des Volkes zu tun.
Eine Abgeordneteninternetseite, diverse monatliche Bürgersprechstunden und vereinzelte öffentliche Auftritte reichen nicht mehr aus, um dem Volk Politik und deren Ziele erklärbar zu machen.
Politik vermittelt spätestens seit Beginn der Finanz- und Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 den Eindruck einer Hetzjagd und einer Hochhausbaustelle, deren Architekten und Statiker das Handtuch geworfen haben, aber trotzdem mit Hochdruck weiter Etage auf Etage gebaut wird, in der Hoffnung, das Bauwerk kippt nicht um.
Dieser Eindruck führt, zusammen mit einem gewaltigen Informationsdefizit, zu dieser für Politiker nicht begreifbaren Unzufriedenheit der Bürger, welche ersatzweise auch Politikverdrossenheit genannt wird.
Fragt man die Bürgerinnen und Bürger, warum sie unzufrieden sind, bekommt man aber in den wenigsten Fällen eine Antwort. Oftmals sind es kleinkarierte Probleme, die eigentlich nichts mit der großen Politik zu tun haben, oder Scheinprobleme, die vom Hören und Sagen anderer herrühren. Aber, was fast jeder aus dem bürgerlichen Lager bestätigt, die Angst vor der Zukunft ist allgegenwärtig. Angst davor, dass unsere politischen Akteure Fehler machen und Politik nur noch für einige wenige gemacht wird und am Volk vorbei läuft.
Hier liegt das Problem.
Diese Angst basiert zum Großteil auf den fehlenden verständlichen Erklärungen. Das Volk hat seit Jahren das Gefühl, stetig vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Die Internetseite der Bundeskanzlerin reicht für Erklärungen leider nicht aus, die Facebook-Seite der Bundesregierung kann als lustiger Versuch gewertet werden, eine Verfolgung des tagaktuellen politischen Geschehens auf der Webseite des Deutschen Bundestages ist mit einem Zeitaufwand verbunden, den niemand betreiben kann, und die Berichterstattung von Journalisten basiert auf deren individueller Wahrnehmung und weniger auf den tatsächlichen Gegebenheiten.
Zu guter Letzt fehlt es an charismatischen Führungspersönlichkeiten, welche dem Souverän das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Weitsicht geben.
Auch wenn man unterstellt, dass die Politik der großen Koalition für unser Land und unsere Zukunft gut ist, versteht diese Politik ein Großteil des Volkes nicht mehr.
Auch ein Versuch der Bundestagsparteien, gemeinsam mit der FDP im Rahmen einer Offensive gegen die Wahlverdrossenheit der Bundesbürger, die Briefwahl zu vereinfachen, wird daran nichts ändern. Das ist lediglich blanker Opportunismus.
Unsere Demokratie ist ernsthaft gefährdet und die Politik ist gefordert, hier gegenzusteuern, allerdings nicht mit einer Vereinfachung der Briefwahl.
Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen müssen begreifen, dass unsere Demokratie nur gerettet werden kann, wenn man die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes politisch einbindet.
Eine Einbindung nach dem Schweizer Vorbild, darüber besteht Einigkeit, ist nicht umsetzbar. Fest steht auch, dass die Strukturen der repräsentativen Demokratie in unserem Land grundsätzlich passen und hier auch keine Veränderungen, sondern lediglich Modifizierungen notwendig sind.
Was dringend angepasst werden muss, ist der wechselseitige (!) Informationsfluss zwischen Volk und Politik. Aber auch ein anderer Punkt muss Beachtung finden. Da es immer mehr Berufspolitiker mit fehlenden alltagsberuflichen und basisorientierten Erfahrungen im Parlament gibt, politische Entscheidungen aber immer kompakter und unkalkulierbarer werden, muss in unser repräsentatives Demokratiegefüge ein „Sicherungsventil“ eingebaut werden, welches eine Korrektur gemachter Fehler ohne parteipolitisches und parlamentarisches Planspiel zulässt.
Beide Positionen würde ein gesetzabschaffendes Referendum ohne Probleme in sich vereinen.
Versteht das Volk bestimmte Entscheidungen nicht, kommt es zum Begehren. Das Begehren ist dann ein Alarmzeichen an die Politik, in Sachen Erklärungsnotstand oder Nachbesserungsbedarf dringend zu handeln. Versagt die Politik an dieser Stelle oder wurde, was eher die Ausnahme (!) sein wird, tatsächlich ein Gesetz oder Rechtsgut verabschiedet, welches dem Volk so stark schadet, dass eine Begehren das hohe Quorum erfüllt, muss die Konsequenz eines Referendums in Kauf genommen werden.
Da vor einem derartigen Referendum, wie bereits aufgeführt, aber immer ein Volksbegehren mit einer entsprechend langen Vorlaufzeit und einem hohen Quorum steht, verschafft die Dauer des Begehrens den politisch Handelnden ein absichtlich gewolltes Zeitfenster. Diese Zeit muss durch die Politikerinnen und Politiker unseres Landes für den Fall eines Begehrens, bei welchem sich tatsächlich das Zustandekommen eines Referendums abzeichnet, unter anderem dafür genutzt werden, den Souverän grundsätzlich über die etwaige Folgen einer etwaigen Gesetzabschaffung aufzuklären.
Die Politik kann so versuchen, Informationslücken, welche möglicherweise zu einem fehlenden oder gar falschen Verständnis der politischen Entscheidungen und somit zu einem Begehren geführt haben, gegenüber dem Souverän zu schließen, oder mit einem modifizierten Handeln den Versuch unternehmen, dem Willen des Volkes entgegenzuwirken, um das Erreichen des Quorums und folglich das Zustandekommen eines Referendums zu vermeiden.
Damit schließt sich automatisch auch der zwischenzeitliche überall feststellbare Graben zwischen Politik und Bürgern.
Wir hatten gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen bereits mehrfach dargelegt, dass es nach unserer Auffassung in den wenigsten Fällen tatsächlich zu einem gesetzabschaffenden Referendum kommen wird, da spätestens mit dem Aufleben eines Volksbegehrens, das ein gesetztes Quorum erreichen könnte, das politische Gegensteuern beginnt.
Beide Seiten, also Volk und Politik, würden sich durch die Erweiterung unserer repräsentativen Demokratie mit der Möglichkeit gesetzabschaffender Referenden wieder annähern und vor allem disziplinieren.
Das von Ihnen eingebrachte Thema Populismus bezeichnen wir unumwunden als „Alibiangst“.
Wir leben nicht mehr in den 20iger und 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Unser Leben spielt sich unter deutlich anderen Lebensumständen als zu Zeiten der Weimarer Republik ab. Nichts gegen den Intellekt unserer Groß- und Urgroßeltern, aber es sind über 80 Jahre vergangen und unser Zeitgeist hat sich augenscheinlich doch etwas weiterentwickelt.
Darstellungen eines aufblühenden Populismus im Zusammenhang mit Volksentscheiden, vor allem unter Verweis auf Ausschnitte unserer Geschichte, wie es von manchen Ihrer Kollegen mit Fingerzeig auf die Weimarer Republik gern zelebriert wird, sind entsprechend kein Argument. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes werden plumpen Populisten nicht so auf den Leim gehen, dass diese in Folge die hohe Hürde eines Quorums für ein Begehren erfüllen und mit einem zustimmenden Referendum zum Erfolg kommen.
Populismus bietet aus unserer Sicht, insofern es sich tatsächlich um einen solchen handelt, die ideale Plattform, um politisch korrekt, sachlich orientiert und ursachenreduzierend gegensteuern zu können.
Verweigern sich die politischen Entscheidungsträger allerdings weiter vehement einer modularen Erweiterung unserer repräsentativen Demokratie, überlassen sie Populisten und anderen „Spaßvögeln“ tatsächlich das Spielfeld und verlieren die Nähe zum Volk und zum Wähler zusehend.
An dieser Stelle möchten wir vorerst enden und hoffen, dass Sie weiter mit uns in Verbindung bleiben
Mit freundlichen Grüßen
Reiko Beil
Initiative Dialog-2015

Link zum Beitrag:
Quelle: dialog-2015 vom 16.06.2015